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Für mich als Chinesen sind Deutsch und Englisch fast wie Nachbarn, aber tatsächlich könnten sie voneinander auch weit weg sein.
Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Englisch hat nur einfach mehr Wörter und grammatikalische Strukturen übernommen als Deutsch.
Falls Du mehr darüber erfahren möchtest, kann ich Dir das Buch "
Our Magnificent Bastard Tongue" von John McWhorter empfehlen. (Seine anderen Bücher sind auch alle sehr lesenswert.)
Meiner Meinung nach ist Niederländisch der einzige "Nachbar", den Englisch und Deutsch haben.
Meine Herrschaften, ich lese gerade Rat Krespel von E. T. A. Hoffmann und ein sehr sehr seltsames Wort ist mir vorgekommen. Was bedeutet eigentlich "obbewandt"?
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Meine Herrschaften, ich lese gerade Rat Krespel von E. T. A. Hoffmann und ein sehr sehr seltsames Wort ist mir vorgekommen. Was bedeutet eigentlich "obbewandt"?
Ich habe das Wort auch noch nie gehört. Aber in dem folgenden Satz:
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Erst nach einiger Zeit wurde es ihm recht deutlich, was er getan; obschon er wußte, daß die Höhe des Fensters vom Boden kaum fünf Fuß betrug, und ihm die Notwendigkeit, Signora bei obbewandten Umständen durchs Fenster zu werfen, ganz einleuchtete, so fühlte er sich doch von peinlicher Unruhe gequält, um so mehr, da Signora ihm nicht undeutlich zu verstehen gegeben, daß sie guter Hoffnung sei.
würde ich es als "
unter den gegebenen Umständen" verstehen.
Hallo Spinni! Schön, von Dir einmal wieder etwas hier zu lesen!
Das von Dir bei E.T.A. Hoffmanns "Rat Krespel" aufgefundene Wort "obbewandt" taucht im Grimm'schen Wörterbuch nicht auf; es spricht alles dafür, dass es sich um einen Neologismus meines Lieblingsdichters handelt.
Ich zitiere die Stelle im Zusammenhang:
"Aber der Rat, in die Welt seiner Akkorde verstiegen, geigte fort, daß die Wände widerhallten, und es begab sich, daß er mit Arm und Bogen die Signora etwas unsanft berührte. Die sprang aber voller Furie zurück; bestia tedesca schrie sie auf, riß dem Rat die Geige aus der Hand und zerschlug sie an dem Marmortisch in tausend Stücke. Der Rat blieb, erstarrt zur Bildsäule, vor ihr stehen, dann aber, wie aus dem Traume erwacht, faßte er Signora mit Riesenstärke, warf sie durch das Fenster ihres eigenen Lusthauses und floh, ohne sich weiter um etwas zu bekümmern, nach Venedig nach Deutschland zurück. Erst nach einiger Zeit wurde es ihm recht deutlich, was er getan; obschon er wußte, daß die Höhe des Fensters vom Boden kaum fünf Fuß betrug, und ihm die Notwendigkeit, Signora bei obbewandten Umständen durchs Fenster zu werfen, ganz einleuchtete, so fühlte er sich doch von peinlicher Unruhe gequält, um so mehr, da Signora ihm nicht undeutlich zu verstehen gegeben, daß sie guter Hoffnung sei."
Die "obbewandten Umstände" sind demnach jene, die in den Sätzen zuvor geschildert worden sind. Im heutigen Deutsch sind noch die Wörter "Bewenden" und "Bewandtnis" im Gebrauch. "Was hat es damit für eine Bewandtnis?" bedeutet "Wie steht es damit, was steckt dahinter?" Im weitesten Sinne also: "Beschaffenheit".
Das "ob" wiedrum hat im älteren Deutsch als Adverb die Bedeutung "oben".
Und so lautet die Übersetzung für "obbewandte Umstände": jene Umstände, deren Beschaffenheit weiter oben erläutert worden ist.
(Edit: Doitsus Antwort kam anscheinend, während ich zugleich noch meine formulierte.)
Vielen Dank! Doitsu und Bruce!
Ich finde das sehr verwunderlich. Wenn Hoffmann einer unserer zeitgenössischen Schriftsteller wäre, dann wäre es ganz normal, dass er neue oder den anderen total unbekannte Wörter erfindet. Aber er lebte eigentlich im 19 Jahrhundert und schrieb viele Meisterwerke, die man bis heute immer noch liest. Wenn er in solcher Situation irgendein unbekanntes Wort erfand, aber keine Diskussion darüber herbeiführte, dann ist es ein bisschen merkwürdig. Auf dem ersten Blick dieses Wortes ist mir eingefallen, dass es ein Schreibfehler sein könnte, aber nach der Feststellung seiner Richtigkeit durch eine alte gescannte Ausgabe mit Fraktur ist mir nur ein einziger Weg zur Klärung seiner Bedeutung übriggeblieben, nämlich meine Freunde hier zu fragen.
Ganz herzlichen Dank für euch!
Lieber Bruce, könntest Du mir einige gute Biographien Hoffmanns empfehlen?
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Wenn er in solcher Situation irgendein unbekanntes Wort erfand, aber keine Diskussion darüber herbeiführte, dann ist es ein bisschen merkwürdig.
Wenn man bei Google Books nach "obbewandt" sucht, findet man neben Büchern von E.T.A. Hoffmann auch einige Treffer von anderen Autoren. Z.B.
hier:
Spoiler Warning below
image »Vermutlich handelt es sich um ein archaisches Wort, das bereits zu Hoffmanns Lebzeiten kaum noch verwendet wurde, aber zu seinem Ideolekt gehörte.
Ansonsten stimme ich mit der folgenden Definition von brucewelch überein:
Quote brucewelch
Und so lautet die Übersetzung für "obbewandte Umstände": jene Umstände, deren Beschaffenheit weiter oben erläutert worden ist.
(Es handelt sich um ein anaphorisch gebrauchtes Adjektiv.)
@ Doitsu:
Danke für den Hinweis. Von meiner These eines von Hoffmann zu verantwortenden Neologismus rücke ich - nun Dir zum Dank besser belehrt - ab. Allerdings ist das Wort dann auch keineswegs zu des Dichters Zeiten bereits antiquiert, wird es doch im Laufe des 19. Jh. immer wieder in den schriftlichen Dokumenten verwendet. Jedoch eignet ihm dabei offensichtlich eine gewisse kanzleistilistische Gravität, was bei Hoffmann nicht verwundert, der mit Vokabular dieser Art gern ironisch spielt. -- Inwiefern es sich "um ein anaphorisch gebrauchtes Adjektiv" handeln soll, erschließt sich mir freilich nicht. Eine Anapher, d.h. eine Wiederholungsfigur (nämlich eines Wortes oder einer Wortgruppe am Anfang aufeinander folgender Verse, Strophen, Sätze oder Satzteile), kann ich hier nirgendwo erblicken.
@ Spinni:
Zu ETA Hoffmann empfehle ich gern:
E.T.A. Hoffmann - das Leben eines skeptischen Phantasten, von Rüdiger Safranski.
Erschien zuerst 1984, gibt es auch als Taschenbuch und kann zu mäßigen Preisen über Antiquariats-Portale wie booklooker oder ZVAB erworben werden (nein, ich habe keinen "Beratervertrag"!).
Es gibt natürlich ältere Biographien, die auch über GoogleBooks zugängig sind; als qualifiziert kann ich Dir da empfehlen:
E. T. A. Hoffmann - Sein Leben und seine Werke, von Georg Ellinger (1894).
Quote brucewelch
Inwiefern es sich "um ein anaphorisch gebrauchtes Adjektiv" handeln soll, erschließt sich mir freilich nicht.
Quote Wikipedia
Anaphorik (vgl. griech. ἀναφέρειν, anapherein, herauftragen, auch auf etw. beziehen) bezeichnet den Verweis eines Satzteiles auf einen anderen, vor ihm stehenden Satzteil [...]
Wiki-LinkIch verstehe; die von der Linguistik anverwandelte Bedeutung dieses klassischen Begriffs der Rhetorik war mir bislang nicht geläufig. Darum: Abermals besten Dank für die Erweiterung meines Wissens (hoffentlich bleibt es da auch haften ...)